Unsere Zeit im Haus der Wannsee-Konferenz – Geschichte und Geschichten eines Ortes
Berlin, Wannsee-Villa. In der zweiten Januarhälfte 1942, wurde hier unter der grauenvollen Bezeichnung „Endlösung der Judenfrage“ die Entscheidung über Tod und Vernichtung von Millionen von Juden getroffen.
Während ein Großteil der Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 12 des „Fontaneums“ das Lager Auschwitz-Birkenau als einen der Orte besuchte, an denen das fürchterlichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte zur Ausführung kam, erforschte ein anderer Teil im Haus der sogenannten Wannsee-Konferenz den Ort seiner systematischen Planung und Vorbereitung.
Hier erfuhren wir vom zutiefst berührenden Lebensweg einer jüdischen Frau, die das Ghetto Riga überlebt hatte. Ihr persönliches Schicksal konfrontierte uns mit einzelnen Etappen einer systematischen und planvollen Ausgrenzung der Juden, die schließlich in einer absoluten und physischen Vernichtung, dem Holocaust gipfelte – beschlossen und besiegelt hier an diesem Ort.
Im Nachvollziehen eines Fünf-Stufen-Modells der Maßnahmen, mit denen zunächst deutsche Juden und später alle in den kriegsbesetzten oder verbündeten Gebieten lebende systematisch aus der Gesellschaft gedrängt und ins Verderben geschickt wurden, näherten wir uns dem eigentlich Unfassbaren. In unserem Ringen um Verstehen versuchten wir der sachlichen Distanz der Lernenden das nachzuvollziehen, was sich uns zunächst als Stufen eines akribischen „Verwaltungsaktes“ zeigte, die Definition, Erfassung und Kennzeichnung der Juden, die daraufhin folgende Enteignung und Beraubung, die Deportation, die Konzentration in den Ghettos und zuletzt die systematische Ermordung in den Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Fünf-Stufen-Modell? Waren wir in unserer sachlichen Distanziertheit in eine Falle getappt? War nicht gerade die „sachliche Distanz“, die Abwesenheit jeden Gefühls der Auslöser allen Leids? Natürlich wollten wir auf keinen Fall den Planenden des Verbrechens nahe sein, aber uns von dem Blick der Lernenden zu befreien und uns den Opfern wirklich emotional anzunähern, ist alles Andere als leicht, wenn die Ereignisse so lange zurück liegen.
Im ehemaligen Speisesaal der Wannseevilla, hier wo vor einem knappen Menschenleben die Verwalter des Völkermords um einen Tisch saßen, versuchten wir zu verstehen, wieso gerade die Juden den Hass der Nazis auf sich gezogen hatten. Warum geschah das alles und warum wurde ein ganzes Volk zu Duldern und aktiven Mittätern? Angst vor dem Einfluss und der wirtschaftlichen Macht der Juden? Nach der Propaganda der Nazis waren Medien und Geld fest in jüdischer Hand. Juden dienten als Sündenbock und Feindbild, wurden für die Inflation verantwortlich gemacht und planten angeblich die kulturelle Unterwanderung und Zerstörung der deutschen Kultur und Lebensweise mit dem Ziel ein jüdisches Weltreich zu errichten. Das Fremde, Andersartige als Bedrohung der eigenen Identität.
Sind wir heute selbst und zu jedem Zeitpunkt wirklich vor derartigen Erklärungs- und Interpretationsmustern sicher? Woran erinnert das?
Wir fingen an zu begreifen, das dieses Verbrechen nicht allein die Schuld einer Clique faschistischer Mörder war, sondern Ergebnis der „disziplinierten Arbeit“ Hundertausender, ja Millionen deutscher Menschen, die gelernt hatten, Ihren Teil der Verantwortung völlig abzuspalten und von ihrem eigentlichen Leben zu trennen. Wie gedankenlose ineinandergreifende Zahnräder einer riesigen Maschinerie waren sie überzeugt das Richtige zu tun, und sie taten mit größtem Fleiß und Akribie das, was eine verbrecherische Führung ihnen vorgab. Schwer fassbar für uns, wie man als Mensch so werden kann…
Im Spannungsfeld zwischen zweien der vielen möglichen, heute oftmals widerstreitenden Zugängen zu den Ereignissen: Geschichtswissenschaft und Religion – drängte sich abschließend die Frage auf „Wie kann ein Gott, dem man die Eigenschaften absoluter Liebe und der Allmächtigkeit zuschreibt, so etwas zulassen?“ Ein möglicher Erklärungsansatz unsererseits war, dass Gott dem Menschen als wertvollste Gabe, die Freiheit, den freien Willen geschenkt hat. Selbst wenn sich der Mensch zu solchen Gräueltaten entschließt, kann Gott nicht mehr eingreifen, denn im selben Moment in dem er dies täte, wäre der Mensch seines freien Willens beraubt.
Aus dieser, durch das Nichteingreifen Gottes gewahrten prinzipiellen Freiheit heraus erwächst dem Menschen aber erst die Chance, Freiheit stets mit Verantwortung zu paaren, sich zu informieren, zu hinterfragen und sich vor allem kritisch mit jenen Situationen, Entwicklungen und Ideologien auseinanderzusetzen, die in unserer aktuellen Lebenswirklichkeit erneut Feindbilder schaffen und Menschen angeblich homogenen Gruppen zuweisen möchten und all dies in völliger Leugnung der menschlichen unverwechselbaren Individualität.
Freiheit, die aus der tiefen Einsicht des Menschen in seine Verantwortung vor der Geschichte für sein Wohl und für das der mit ihm auf dieser Erde lebenden Menschen erwächst, bedarf keines Eingreifens eines Gottes und es spielt keine Rolle mehr, ob man an einen jüdischen, muslimischen oder christlichen Gott glaubt oder aber keinen höheren Geist für sich reklamiert.
Charlotte Schweers
Greta Gärtner
Gerlinde Braun